Meisterhafte Inklusion am Arbeitsplatz
Im vergangenen Jahr hat Tim Krenke die Meisterschule in Bremen beendet. Der gelernte Fluggerätmechaniker darf sich seitdem »Industriemeister« nennen. Das macht er so: Zeigefinger der rechten Hand auf Kopfhöhe heben und mit einer schnellen Bewegung sein Handgelenk drehen – »Meister« in der Gebärdensprache.
Text: Airbus & Sandra Lachmann, Fotos: Leon Buchholz
Tim Krenke ist gehörlos. Seit 23 Jahren arbeitet er schon bei Airbus in Bremen. Im Anschluss an seine Ausbildung hat er in der Kleinkomponentenabteilung der Strukturmontage gearbeitet und sich in der Instandhaltung um den Werkzeugservice und das Lager gekümmert. Seit fünf Jahren arbeitet er in der Qualitätskontrolle für die innere und äußere A320/A321-Landeklappen in der Bremer Auslieferung. Er checkt, ob alle Aufträge auf einem Bauteil geschlossen sind und validiert sie, ehe ausgeliefert wird.
»Meine Kolleg*innen hier waren viel besser qualifiziert als ich«, gebärdet Krenke, eine von zwei Dolmetscherinnen im Raum übersetzt. Im Arbeitsalltag habe das keinen Unterschied gemacht, er habe dieselben Aufgaben übernommen wie die Meister und Techniker an den benachbarten Schreibtischen. Trotzdem fühlte er sich herausgefordert. Als sein Vorgesetzter ihn gefragt hat, ob er sich weiterqualifizieren wolle, musste er nicht lange überlegen. »Für meinen weiteren Weg war und ist es wichtig, diesen Titel zu haben. Für viele Stellen, die mich bei Airbus interessieren, ist der Meister oder Techniker obligatorisch.«
Erster gehörloser Schüler einer Bremer Berufsschule
Der Bremer ist seit seiner Geburt gehörlos und hat eine Gehörlosenschule besucht. Den schulischen Teil seiner Ausbildung hätte er am Rheinisch-Westfälischen Berufskolleg in Essen, der größten Förderschule für Gehörlose und Schwerhörige in Deutschland, absolvieren können. Das hat er abgelehnt und ist 1998 als erster Gehörloser an eine Bremer Berufsschule gegangen. »Airbus hatte damals keinerlei Erfahrung mit solch einer Situation«, erzählt er. Dennoch habe er in all den Jahren immer Unterstützung durch das Unternehmen und die Schwerbehindertenvertretung am Standort erfahren. Er saß in der ersten Reihe, den Dolmetscher vorne im Blick. Wer in seinem Rücken sprach, wusste er meist nicht.
Das größte Problem vor dem Besuch der Meisterschule fast 20 Jahre später war ein finanzielles. Wer würde für die Kosten aufkommen? Dolmetscher sind teuer. Ein Jahr lang leistet Tim Krenke Überzeugungsarbeit. Schließlich ist klar: Das Integrationsamt bezahlt den Dolmetscher, der Meisteranwärter übernimmt die Schulkosten und Airbus stellt ihn im Rahmen des Care-for-Life-Programms sechs Monate frei.
Von Dezember 2018 bis Mai 2019 besucht der Familienvater die Meisterschule. 22 Schüler und Schülerinnen im Alter von 21 bis 54 Jahren kommen Tag für Tag zusammen. »Anfangs waren alle irritiert, aber das änderte sich schnell«, sagt Tim. Unterricht von 8 bis 15 Uhr. Anschließend lernten die Meisterschüler oft in Gruppen weiter – ohne ihren gehörlosen Mitschüler. »Die Dolmetscher hatten um 15 Uhr Feierabend. Ohne sie kann ich nicht mit Menschen kommunizieren, die keine Gebärden können.«
Er lernt viel online und fragt die Dozent*innen in der Schule, wenn ihm etwas unklar bleibt. »Das Niveau bei einer solchen Qualifizierung ist so hoch, dass es schwierig ist, einen anderen Gehörlosen aufzufinden, der mir hätte helfen können.« Für Nachhilfe hätte er wieder einen Dolmetscher benötigt, der bezahlt werden will.
Als der Unterricht im Frühsommer 2019 endet, legt er mit der Industrie- und Handelskammer in Bremen den Ablauf seiner Abschlussprüfungen fest. »Niemand konnte sich an einen vergleichbaren Fall erinnern«, erinnert sich Tobias Schotge aus dem Bereich Aus- und Weiterbildung. Tim bekommt mehr Zeit als die anderen Prüflinge und sitzt allein im Prüfungsraum, um bei Rückfragen mit dem Dolmetscher niemanden zu stören. »Das war alles super organisiert«.
Fünf von acht Prüfungen meistert er im ersten Anlauf, zwei weitere im November 2019. Die letzte sollte im Mai 2020 stattfinden, verschiebt sich wegen der COVID-19-Krise aber bis in den Winter. Seit Februar 2021 ist er nun offiziell Industriemeister, Fachrichtung Metall. »Die IHK sagte mir, ich sei der einzige gehörlose Industriemeister in ganz Deutschland.«
Ferndolmetschdienst erleichtert Kommunikation
In seinem Arbeitsalltag tauscht er sich mit seinen Bremer Kolleg*innen, aber auch viel mit anderen Airbus-Standorten aus. »Organisieren und Führen liegen mir.« Er schreibt Mails, nutzt Chats. Kolleg*innen, die länger mit ihm arbeiten, verstehen einige Gebärden. Vor allem der Telefon- und Ferndolmetschdienst TeleSign erleichtert ihm die Kommunikation. Über eine Bildverbindung bietet TeleSign simultanes Dolmetschen und damit einen reibungslosen Austausch von Hörenden und Gehörlosen. Die Dolmetscher*innen rufen den gewünschten Gesprächspartner an und dolmetschen simultan.
Tim kann telefonieren, an digitalen Konferenzen teilnehmen und den Dienst für kurze Besprechungen am Arbeitsplatz nutzen. »Das ist ein großer Schritt in Richtung Barrierefreiheit, weil es mir ein wenig Spontanität erlaubt.« 500 Minuten im Monat stehen ihm zur Verfügung, bezahlt vom Integrationsamt.
»Es wäre natürlich ein Traum, wenn meine Kolleg*innen Gebärdensprache könnten.«
Tim Krenke
Längere Teammeetings organisieren der Industriemeister und seine Kolleg*innen Monate im Voraus, so dass der Landesverband der Gehörlosen in Bremen, der sich um die Dolmetschervermittlung in der Hansestadt kümmert, frühzeitig planen kann. Eine Begrenzung gibt es nicht, sofern Dolmetscher zur Verfügung stehen, können sie gebucht werden. Dauert ein Termin länger als zwei Stunden, kommen zwei, um abwechselnd zu übersetzen. In Bremen gibt es 30 Dolmetscher für rund 350 Gehörlose.
Smalltalk und Flurfunk gibt es nicht
»Es wäre natürlich ein Traum, wenn meine Kollegen und Kolleginnen Gebärdensprache könnten«, sagt Tim. Wenn sie ein Problem besprechen, erfährt er oft erst von der Lösung. Flurfunk bleibt ihm verborgen, Smalltalk in der Teeküche oder private Gespräche im Büro gibt es für ihn nicht. In seiner Mittagspause trifft er sich häufig mit anderen Gehörlosen am Standort. Sieben arbeiten bei Airbus, vier weitere bei Premium Aerotec auf dem gleichen Gelände.
Im Ehrenamt berät Tim andere Gehörlose, er engagiert sich, um Schulabsolventen den Weg ins Berufsleben zu erleichtern. Auch seine Frau ist viel in Sachen Barrierefreiheit unterwegs, vor allem in der Kultur. Sie und seine beiden Kinder hören ebenfalls nichts. Für sie und für alle anderen jungen Gehörlosen wünscht er sich, dass sie den Mut haben, den Berufsweg einzuschlagen, auf den sie Lust haben – und dass sie auf ihrem Weg unterstützt werden.
Airbus in Bremen
In Deutschland befinden sich einige der größten und bedeutendsten Airbus-Standorte. Bremen ist mit fast 2.100 Mitarbeitenden der zweitgrößte Airbus Commercial-Standort in Deutschland und zuständig für die Konstruktion, Fertigung, Integration und Erprobung der Hochauftriebssysteme für die Flügel aller Airbus-Flugzeugprogramme. Mit Airbus Commercial Aircraft und Airbus Defence and Space – plus ArianeGroup, Testia und Premium Aerotec ist der Standort einzigartig bei Airbus.