Mit Mitte 30 nochmal ganz von vorne anfangen – in Bremen kein Problem
Imke Mittelstädt hat in ihrem Leben schon viel ausprobiert. Verschiedene Studiengänge und eine Selbstständigkeit in der Gastronomie liegen hinter ihr, bis sie merkte: „Das ist es nicht, ich will beruflich noch einmal etwas ganz anderes machen.“ Eine Freundin brachte sie auf die Idee, sich nach Ausbildungsplätzen umzusehen – zu diesem Zeitpunkt war Imke Mittelstädt 36 Jahre alt. Bei ihrer Suche stieß sie auf die Schifffahrts- und Logistikbranche. Zwischen dem Global Player MSC, einer der größten Containerreedereien der Welt, und der Wahlbremerin passte es auf Anhieb. Seit 2022 absolviert sie dort eine Ausbildung zur Schifffahrtskauffrau. Welche Wege und Entscheidungen sie beruflich dorthin geführt haben, wo sie sich nun pudelwohl fühlt, erzählt sie im Interview.
Text: Rena Lossau
Der Blick vom 12. Stock des weißen Hafenhochhauses mit dem gelben MSC-Container auf der hölzernen Dachterrasse ermöglicht einen weiten Blick über die Überseestadt. Zwischen modernen Neubauten stehen wettergegerbte Industriegebäude wie die Rolandmühle, das BLG-Forum und der historische Speicher XI. Die Häuser aus rotem Backstein erinnern an eine längst vergangene Zeit, als dieser Ort einer der wichtigsten Umschlagplätze des Landes Bremen war – der Überseehafen. Wertvolle Waren wie Baumwolle, Kaffee und Tee, verpackt in hölzernen Kisten und Säcken, kamen hier mit Schiffen aus aller Welt in die Hansestadt. In den umliegenden Speichern wurden sie für den Weitertransport auf dem See- oder Schienenweg zwischengelagert. Mit der Einführung und anschließenden Nutzung des Containers, Ende der 60er Jahre, begann ein neues Zeitalter in der Logistik. Die stapelbaren Frachtmodule machten die alten Hafenanlagen überflüssig und die einlaufenden Schiffe zu groß für den kleinen Überseehafen. Der Schiffsverkehr verlagerte sich zunehmend auf die umliegenden, größeren Ankerplätze, bis der Überseehafen 1998 zugeschüttet wurde. Heute erinnert nur noch der Name des neu entstandenen Stadtteils an ihn.
Mit Schiffen und Containern hatte Imke Mittelstädt, die in der 12. Etage des Hafenhochhauses an einem großen Besprechungstisch sitzt und über Bremens jüngsten Stadtteil blickt, lange Zeit nichts zu tun. Aufgewachsen in Ostfriesland, kam sie über Umwege für ihr Studium nach Bremen.
„Eigentlich wollte ich immer weit weg von zu Hause. Berlin war lange Zeit mein Favorit. Mittlerweile fühle ich mich hier sehr wohl und bin froh, in dieser Mischung aus Groß- und Kleinstadt zu leben“, erzählt die 38-Jährige.
Neben ihrem Studium – zuletzt Soziale Arbeit an der Hochschule – verdiente sie sich in der Gastronomie etwas dazu. „Irgendwann kam meinem damaligen Lebenspartner und mir die Idee, ein eigenes Restaurant zu eröffnen. Er arbeitete als Koch und ich als Service- und Thekenkraft“, berichtet Imke Mittelstädt. „Da habe ich dann allerdings festgestellt, dass dieser Berufszweig nicht so attraktiv ist, wie ich ihn mir als junger Mensch und Laie vorgestellt habe“, erzählt sie weiter. Das Studium, ein kleines Kind zuhause und dann noch ein Restaurant – das ist irgendwann nicht mehr alles unter einen Hut zu bringen. „Rückblickend war es die richtige Entscheidung, das Restaurant aufzugeben“, sagt sie.
Wendepunkt Pandemie: Vom Tresen zur Schifffahrtskauffrau
Der Gastronomie bleibt sie trotzdem erhalten. Insgesamt arbeitet sie über zehn Jahre in Bars und Speiselokalen, meist im Bremer Szene-Stadtteil „Viertel“. „Und dann kam plötzlich das Corona-Virus“, erinnert sich der Fußballfan zurück. Zu Beginn der Pandemie, im Frühjahr 2020, mussten viele Gaststätten schließen, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Auch in Bremen gab es strikte Lockdown-Maßnahmen, die es den Gastronominnen und Gastronomen verboten, Gäste vor Ort zu bedienen. „Aufgrund der eingeschränkten Verkaufszeiten hatte ich am Wochenende wieder mehr Freizeit, die ich mit meiner Tochter verbracht habe. Auch der Wechsel zwischen Tag- und Nachtschicht fiel weg“, erklärt sie. Abermals reift in Mittelstädt der Gedanke, sich beruflich zu verändern – nur die konkrete Idee fehlte noch. Bis eine Freundin vorschlug, gemeinsam eine Liste mit verschiedenen Ausbildungsberufen durchzusehen. Das Berufsfeld der Schifffahrtskauffrau weckte sofort ihr Interesse. „Ich erinnerte mich an zwei meiner Freundinnen, die bereits in dem Bereich arbeiten“, schildert die Wahlbremerin. Eine davon ist bei dem großen Schifffahrts- und Logistikdienstleister MSC tätig. „Sie hat immer sehr positiv von ihrem Job erzählt. Zum Beispiel, dass sie sich sehr wohl fühlt, wie toll das Team ist und wie viel Spaß ihr die Arbeit macht“, beschreibt die passionierte Läuferin.
Die Erzählungen ihrer Freundin und die Möglichkeit, einen Einblick in logistische Abläufe zu bekommen, haben sie auf Anhieb gereizt:
„Welche Schritte sind nötig, um einen Container von A nach B zu verschiffen? Das fand ich total spannend“, erzählt die Auszubildende.
Die Wahlbremerin bewarb sich im April 2022 bei dem Logistikriesen – mit Erfolg. „Ich bin MSC wahnsinnig dankbar, dass sie mir mit 36 Jahren und meinem ungewöhnlichen Lebenslauf die Chance gegeben haben, mich beruflich noch einmal ganz neu zu orientieren“, betont sie. Bevor sie sich bewirbt, steht Imke Mittelstädt vor der Entscheidung, in welchem Bereich sie ihre Ausbildung machen möchte. Zur Auswahl stehen die Fachrichtungen Tramp und Linie. Während der Linienverkehr festen Fahrplänen folgt, richten sich die Routen im Tramp-Sektor nach individuellen Aufträgen und den entsprechenden Ladungen. Imke Mittelstädt entschied sich für Ersteres – ein weiterer Grund für eine Ausbildung bei MSC, denn das Unternehmen hat sich auf den Linienverkehr spezialisiert. Seitdem durchläuft sie die verschiedenen Abteilungen des Global Players. „Im Moment bin ich im Import tätig. Dort sammle ich täglich neue Erfahrungen und lerne viel dazu, denn jede Abteilung hat ihre eigenen Aufgaben, Abkürzungen und Abläufe. Das ist wie eine eigene Sprache.“
Angekommen, um zu bleiben
Der große Aha-Effekt kam bei Imke Mittelstädt nach ihrem ersten Ausbildungsjahr. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie einige Abteilungen des Unternehmens durchlaufen und somit einen Teil des Transportkettenprozesses kennengelernt: vom Customer Service, wo die Kunden ihre Buchungen aufgeben, bis zur Dokumentation, in der die Frachtbriefe erstellt werden. „Da fingen die Puzzleteile an sich zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Ein Prozess, der sich immer weiter fortsetzt. Das ist total motivierend und spannend!“, erzählt die ehemalige Gastronomin. Neben den obligatorischen Stationen, welche die Auszubildenden im Unternehmen durchlaufen, haben sie die Möglichkeit, eine Wunschabteilung zu wählen, um ihre Interessen und Stärken zu fördern. „Der Bereich, für den ich mich entschieden habe, heißt Breakbulk. Hier werden übergroße Packstücke verschifft, also Waren, die nicht in einen Container passen: Windmühlenflügel zum Beispiel“, erzählt sie. „Die Abteilung fand ich so spannend, dass ich dafür bewusst nach Hamburg gependelt bin. Dieser Aufwand hat sich definitiv gelohnt!“
Nach ihrer Ausbildung würde sie gerne in einem Bereich arbeiten, der noch mehr Kontakt mit Kundinnen und Kunden beinhaltet. „Das liegt mir einfach, macht Spaß und bringt Abwechslung.“ Auf die Frage, wie sie sich ihre Zukunft nach der Ausbildung vorstellt, antwortet die Wahlbremerin: „Ich würde gerne weiterhin bei MSC bleiben.“ Viel weiter nach vorne schauen, möchte sie aber nicht. „Ich habe mir abgewöhnt, in meinem Leben weitreichende Pläne zu machen. Deshalb gehe ich jetzt Schritt für Schritt und lasse mich gerne überraschen, was noch auf mich zukommt“, schließt die Auszubildende mit einem Lächeln im Gesicht das Interview ab. Imke Mittelstädt hat einen bewegten Lebensweg mit vielen Anläufen und Richtungswechseln hinter sich. Dabei hat sie nie den Mut verloren und sich immer wieder neu erfunden, um schließlich den richtigen Platz im Berufsleben zu finden.