Kiez-Guide bei Instagram: Jakob zeigt, wie Walle tickt
Bremen macht es, Amsterdam macht es, Innsbruck und Leipzig auch: Sie nutzen Instagram, um digital zu zeigen, was es in ihrer Stadt zu erleben gibt. Neben solchen offiziellen Stadtmarketing-Accounts sind es aber immer auch private Kanäle, die ein Bild von Großstädten zeichnen. Unsere Autorin Sandra hat sich mit dem Macher eines neuen Bremer Kiez-Accounts getroffen.
Text: Sandra Lachmann, Fotos: Shanice Allerheiligen
Seit einigen Monaten erobert ein Bremer Stadtteil meine Instagram-Timeline, den ich dort bisher eher selten wahrgenommen habe: Walle. Ich sehe Aufnahmen bunter Häuserfassaden, lerne in Kachelgröße Menschen und ihre persönlichen Geschichten kennen und erfahre, wo es in Walle veganes Eis, die leckersten Falafel und stets einen lebendigen Nachbarschaftsschnack gibt.
Digitales Stadtteilmarketing eines Tischlermeisters
»Alle nach Walle«, so heißt der digitale Kiezguide für Bremerinnen und Bremer. Ein Account, der die Vielfalt eines Stadtteils so unaufgeregt einfängt, dass ich direkt Lust bekomme, in den Bremer Westen zu ziehen. Ein Account, der aber nicht vom offiziellen Stadtteilmarketing ins Leben gerufen wurde, sondern von einem Wahl-Bremer, der seit zwei Jahren in Walle lebt und nicht vor hat, daran etwas zu ändern: Jakob Thomsen.
Jakob ist gelernter Tischlermeister und arbeitet als Berufschullehrer in Delmenhorst. Langeweile kann es daher nicht sein, was in motiviert, wöchentlich viel Zeit in seinen Instagram-Account und den dazugehörigen Blog zu investieren. Um herauszufinden, was ihn antreibt, seinen Blick auf Walle mit anderen zu teilen, und um mir von ihm seine Lieblingsplätze zeigen zu lassen, treffe ich Jakob an einem Samstagvormittag zum gemeinsamen FLANIERN.
Walle entdecken: Wochenmarkt am Wartburgplatz
dienstags, donnerstags und samstag, 8 – 13 Uhr, Website
Treffpunkt – wie könnte es an einem Samstag anders sein – ist der Wochenmarkt am Wartburgplatz. Nur eine Handvoll Marktstände sind aufgebaut, in entspannter Atmosphäre kaufen einige Besucher*innen Gemüse, Blumen und Obst. Für ein Gespräch vor dem Bezahlen der Einkäufe ist hier noch Zeit. »Ich muss auch noch eben Äpfel kaufen, bevor wir losgehen«, sagt mir Jakob und steuert den Stand von Familie Siemers an, die immer dienstags, donnerstags und samstags auf dem Wochenmarkt in Walle Obst und Gemüse verkaufen. Hinter Tomaten, Paprika, Lauchzwiebeln, Marmeladen und Äpfeln steht Zoé, auf der Marktwaage klebt ein pinkfarbene Anker. Der Echt Walle-Sticker.
Zoé lebt schon seit ihrer Kindheit hier in Walle und das gerne. Umso mehr freut sie sich, dass in letzter Zeit wieder viele kleine Cafés und Restaurants im Stadtteil eröffnet haben. Das weiß ich, weil ich es auf Jakobs´ Instagram-Account gelesen habe. Zoé war eine der ersten Personen, die der Berufsschullehrer für seinen Account angesprochen hat. »Am Anfang habe ich nur Aufnahmen von Straßen und schönen Ecken in Walle gemacht«, erzählt mir Jakob, als wir unseren gemeinsamen Rundgang starten.
»Aus Versehen inklusiv«
Walle ist ein ehemaliges Hafenarbeiter-Viertel im Bremer Westen. Sieben Ortsteile gibt es. Die chice Überseestadt im ehemaligen Bremer Hafenrevier, eines der größten städtebaulichen Entwicklungsprojekte Europas, gehört beispielsweis ebenso dazu wie Utbremen, ein im Zweiten Weltkrieg fast komplett zerstörtes Quartier, das heute vor allem aus Wohnblöcken besteht. Beschaulich ist die Atmosphäre zwischen kleinen Reihenhäusern und Altbremer-Häusern in Osterfeuerberg, während das Gewerbegebiet Hohweg mit idyllisch gelegenen Parzellen punkten kann. Jakobs Walle, das ist vor allem der Ortsteil Westend mit seiner guten Infrastruktur aus Supermärkten, kleinen Geschäften, Kneipen, Imbissen und dem Wochenmarkt. Einen hat an hier immer im Blick: den rund 235 Meter hohe Fernmeldeturm, auch „Waller Spargel“ genannt.
So vielfältig wie die Architektur – von Bürolofts über alte Arbeiterhäuser bis hin zum Walle Center – sind auch die Bewohnerinnen und Bewohner von Walle. Eine Mischung, die Jakob sehr gefällt und deshalb auch auf seinem Instagram-Account abbildet. »Walle ist aus Versehen inklusiv«, beschreibt der 36-Jährige. »Walle ist multikulti, im positiven Sinne.«
Walle entdecken: Kinderfreundliches Café »Für Elise«
Wartburgstraße 71, Instagram
Wir schlendern am »Für Elise« vorbei. Ein Café, das mich in der Vergangenheit durchaus das ein oder andere Mal nach Walle gelockt hatte, war es doch das einzige, das explizit auch für Kinder gedacht war. Dass es aktuell wieder geöffnet ist, überrascht mich, hatte ich zuletzt doch davon gehört, dass die ursprünglichen Gründerinnen es aufgeben mussten. »Doch doch, das hat schon länger wieder auf. Ayse und Surkan führen das Café jetzt «, klärt mich Jakob auf. »Drinnen ist eigentlich alles genauso wie früher, die Speisekarte hat sich nur etwas verändert.« Ich spähe durch das Fenster – tatsächlich! Kaum eine Veränderung. Jedenfalls nicht beim Interieur. Bei den Gästen erkenne ich hingegen eine größere Vielfalt als zuvor. Frauen mit Kopftuch, Senior*innen und mehr Männer als früher sitzen an den Tischen.
Jakob flitzt kurz hinein ins Café, um seine Äpfel am Tresen zur Aufbewahrung abzugeben. »Dann muss ich die nicht die ganze Zeit schleppen. Und nachher sollten wir uns hier ohnehin nochmal kurz reinsetzen. Es gibt eine phantastische Linsensuppe.«
Walle entdecken: Independent-Titel und Buchliebe im »Logbuch«
Vegesacker Straße 1, Website
Wir gehen weiter die Wartburgstraße hinauf. Nach wenigen Schritten ist der erste Ort erreicht, den Jakob mir unbedingt zeigen möchte: das Logbuch. Seit 10 Jahren gibt es den familiengeführten Buchladen inzwischen, seit 2017 hat er seinen Platz an der Ecke Wartburgstraße/ Grenzstraße gefunden, erzählt mir Lasse, der heute als Verkäufer vor Ort ist. »Vorher waren wir in der Überseestadt, aber hier sind wir viel besser aufgehoben.« Es gäbe den ganzen Tag Laufkundschaft, nicht nur in der Mittagspause.
Inhaber des Logbuchladens sind die Eltern von Lasse, Sabine und Axel Stiehler. Gemeinsam kuratieren die beiden – sie Buchhändlerin, er Grafik-Designer und Verleger – in dem kleinen Eckladen ein Sortiment, das einlädt, auch mal Neues zu entdecken. Hier gibt nicht die Spiegel-Bestseller-Liste, sondern das Gespür und der Geschmack der Inhaber*innen an, welche Titel im Regal landen.
Besonders am Herzen liegt es dem Logbuchladen, Kontakt zu kleinen und unabhängigen Verlagen zu halten. Das Logbuch versteht sich außerdem als Kulturort, regelmäßig finden hier Lesungen statt. Nicht zuletzt drucken die Stiehlers seit 2014 sogar noch im eigenen Verlag Printprodukte. Neben Postkarten gibt es Pressedrucke mit Erzählungen und Illustrationen.
Bevor wir gehen, legt Jakob einen kleinen Stapel Aufkleber auf den Kassentresen. »MEIN KIEZ« steht darauf und er hinterlässt sie gern an den Orten im Stadtteil, die seinen Alltag bereichern. Einerseits als Solidaritätsausdruck, andererseits als Werbung für seinen Kanal. Und ein Buch kauft er auch: »Queergestreift«, eine Neuerscheinung, ein aufklärendes Buch über LGBTIQA* und die persönlichen Geschichten, die hinter diesen Buchstaben stecken.
Vom alten Land in die große Stadt
Gebürtig kommt Jakob aus Stade, aus dem Alten Land. Für das Stadtleben hat er sich sehr bewusst entschieden: »Ich war schon immer sehr weltoffen. Als ich nach meiner Ausbildung in Hamburg gelebt und gearbeitet habe, hat sich das noch verstärkt. Ich war Teil einer sehr internationalen Clique, das hat mich total geprägt. Die Mentalität im Ländlichen, nee, das ist nichts für mich.«
Zwölf Mal ist der Tischlermeister in den vergangenen zwölf Jahren umgezogen. Innerstädtisch, aber auch zwischen Hamburg, Oldenburg und Bremen hin und her. Damit soll nun Schluss sein. Mit seinem Account @allenachwalle will er nun aktiv etwas für den Stadtteil tun, in dem er lebt. Ihn durch das, was er von ihm teilt, positiv prägen. »Wenn ich zum Beispiel zeige, wie nachhaltig der Alltag in Walle sein kann, animiere ich auch andere, nachhaltiger zu leben. Und wenn ich Menschen aus dem Stadtteil vorstelle, dann rückt die Nachbarschaft vielleicht noch enger zusammen. Und von solchen Entwicklungen profitiere ich am Ende ja auch.«
Nachhaltigkeit, das wird in unserem Gespräch immer wieder deutlich, ist Jakobs zentrales Thema. »Es ist doch verrückt: Menschen fliegen durch die Gegend, aber kennen nicht einmal alle Teile ihrer eigenen Stadt. Es wäre doch toll, wenn Menschen lokal mehr entdecken würden. Mit dem Rad in andere Stadtteile statt mit dem Auto in andere Städte fahren würden. Dafür möchte ich mit meinem Instagramkanal werben. Natürlich auch, weil es unseren Gastronomien und Shops hier gut täte, etwas von den Euros abzubekommen, die derzeit nur an Hotspots ausgegeben werden.«
Walle entdecken: Obst und Gemüse von »Onkel Kovan«
Bremerhavener Straße 45, Instagram
Wie es ganz konkret gelingen kann, mehr Nachhaltigkeit in den eigenen Stadtteil zu bringen, will mir Jakob am »Onkel Kovan« in der Bremerhavener Straße zeigen. Seit 1983 gibt es den Gemüseladen schon. Ein Ort, an dem Nachbar*innen vorbeischauen, um ihre Postpakete abzuholen, frischen Ziegenkäse oder ein Getränk zu kaufen. Ein Laden, wie man ihn aus dem Urlaub im Süden kennt – mit stets offenen Türen und einem Inhaber, der nicht hinter der Theke auf Kundschaft wartet, sondern sich draußen am Gehsteig mit Passanten unterhält und ihnen unbekannte Früchte zum Probieren anbietet – egal, ob sie etwas kaufen wollen oder nicht.
Ein Inhaber wie Murat eben, den wir direkt vor dem Laden treffen, als wir ankommen. Nach seinem Studium in Südamerika ist er zurück nach Bremen gekommen, um den Gemüseladen seiner Eltern zu übernehmen. Er ist überzeugt: »Walle ist das kommende Szeneviertel«. Multikulti sei es, ein Mix aus Arm und Reich, der funktioniert.
»Walle ist das kommende Szeneviertel.«
Murat, Inhaber »Onkel Kovan«
Walle entdecken: Toleranz statt Stammtisch-Parolen im »Hart Backbord«
Vegesacker Straße 60
Weiter geht’s in die Vegesacker Straße. Ziel: das Hart Backbord, Jakobs Stammkneipe. Seit 40 Jahren ist sie Treffpunkt für alle aus der Nachbarschaft, die sich hinter dem Motto von Eigentümer Alex Becker versammeln können: »Man muss Menschen sein lassen wie sie sind.« Anderen die eigene Meinung und Lebensart aufdrängen wollen, das verträgt sich nicht mit der Philosophie der Kneipe, die politisch schon immer eindeutig links steht.
Wer es reduziert und chic am Abend will, der ist im Hart Backbord falsch. Hier hat sich in den vergangenen Jahrzehnten einiges angesammelt, was auf den ersten Blick so gar nicht zusammenpassen mag, insgesamt aber so viel Gemütlichkeit und Authentizität ausstrahlt, dass ich mir gut vorstellen kann, wie man hier abends länger versackt als geplant. Eine Eckkneipe, wie sie auch in einem Buch von Sven Regener beschrieben sein könnte – wenn seine Protagonisten nicht durch Viertel und die Vahr spaziert wären.
»Walle ist langsamer als alle anderen, dafür halten wir länger durch.«
Alex Becker, Inhaber Hart Backbord
Walle entdecken: »Helga« und die »Waller Mitte«
Helga: Helgolander Str. 22, Instagram
Alex muss los. Zum Westbad. Dort haben seine Kinder an diesem Samstag einen Schwimmwettkampf. Es ist das letzte große Event, bevor das Hallenbad für Sanierungen geschlossen wird – 2025 ist die Neueröffnung geplant. Jakob lenkt mich zur »Waller Mitte«, einem großen Areal, das ich zunächst einmal in die Schublade „Grünanlage“ stecken würde. Umrahmt wird es einerseits von altem Gebäudebestand, andererseits von Neubauten in Holzoptik.
Ursprünglich ein Sportplatz ist die Waller Mitte heute eine Bewegungs- und Begegnungsfläche, deren Pläne zusammen mit einer Bürgerinitiative entstanden sind. »Heute ist es ja leer hier«, wundert sich Jakob. »Normalerweise ist immer viel los. Vor allem Kinder und Jugendliche sind hier täglich unterwegs.« Und auch kleine Events, die den Stadtteil beleben, gäbe es: Flohmärkte, Urban Gardening, Freiluftfrühstück…
Impulse dafür kommen nicht nur aus dem Kreis der damaligen Bürgerinitiative, sondern auch von den Mitgliedern der Baugemeinschaften, die in den Neubauten an der Waller Mitte neue Wohnkonzepte realisiert haben, ein Mietshaussyndikat und Familien-WGs beispielsweise.
Meine Blase meldet sich. Die Limos, die Alex in der Sonne vor dem Hart Backbord trotz Zeitmangel spendiert hat, zeigen ihre Wirkung. »Wir können einfach mal bei Helga vorbeischauen. Dort ist bestimmt jemand vor Ort, schließlich ist bald Eröffnung«, schlägt Jakob auf meinen Hinweis, dass wir mal in Richtung einer Toilette aufbrechen müssen, vor. Helga? Ich bin gespannt.
Helga entpuppt sich als eine weitere Eckkneipe in der Hegolander Straße. Schon früher gab es hier eine Kneipe, das »Freiraum«. Das Besondere an »Helga«: Es ist keine klassisch kommerzielle Gastronomie, sondern eine kollektive Vereinskneipe.
Tatsächlich steht die Tür offen, als wir ankommen. Drinnen wird eifrig gewerkelt. Der letzte Feinschliff, denn schon in wenigen Tagen werden hier die ersten Gäste empfangen. Die Einrichtung ist deutlich reduzierter als im Hart Backbord, der Gastraum wirkt dennoch einladend und gemütlich. Nichts ist neu, alle Möbel sind Spenden. Über einem Samt-Sofa funkelt eine Discokugel, hinterm Tresen werden Getränke eingeräumt. Ob wir die Toilette benutzen und ein paar Fotos machen dürfen? Na klar.
Walle entdecken: Veganes Eis bei »Eisfreude«
Vegesacker Str. 15
Um einen Kneipentipp reicher geht es für Jakob und mich zurück in Richtung »Für Elise«. Der Hunger meldet sich, wir wollen einen Happen essen. Und Jakob braucht ja auch seine Markteinkäufe, die er dort zwischengelagert hat. Wir spazieren durch das schöne Zietenviertel und biegen irgendwann wieder auf die Vegesacker Straße ein. »Halt! Die Eisdiele muss ich dir aber auch noch eben zeigen«, ruft Jakob, als wir eigentlich schon an der »Eisfreude« vorbei sind. Wir stoppen und gehen hinein.
Hinterm Tresen steht Luciano, gelernte Eisfachmann und heißt uns herzlichen willkommen. Er stellt alle Eissorten, die wir in der Vitrine sehen, selbst her. Zuvor war er 16 Jahre bei Eis Molin in Gröpelingen – es weiß also, was ein gutes Eis braucht: »Natürliche Zutaten und wenig Zucker!« Der Cloud an Eisfreude: Hier gibt es eine Reihe an veganen Sorten. Wir dürfen probieren – wirklich sehr lecker.
Einen Nachtisch brauchen wir also nicht mehr, aber ein Hauptgericht gönnen wir uns zum Abschluss in der »Elise«. Für Jakob gibt´s Tofu-Curry im Lavasch, für mich eine Linsensuppe. Ein entspannter Abschluss des vierstündigen Spaziergangs durch einen kleinen Teil von Walle. Durch Jakobs Kiez. Für den es sich definitiv lohnt, sich aufs Rad zu schwingen, um die eigene Stadt noch besser kennenzulernen.
Hier könnt ihr Jakobs Account bei Instagram finden: @allenachwalle. Außerdem findet ihr auf allenachwalle.de weiterführende Infos zu den im Text genannten und vielen weiteren Locations.